Novemberpogrom: Die „Reichskristallnacht“ in Wiener Neustadt

Die dramatischen Geschehnisse 1938 haben tiefe, unauslöschliche Spuren in der Stadtgeschichte unserer Stadt hinterlassen

Von 9. auf 10. November 2023 jährt sich das Novemberpogrom 1938 zum 85. Mal. Damals kam es im gesamten Deutschen Reich zu organisierten Gewalttaten gegen die jüdische Bevölkerung, ihr Eigentum und gegen die Synagogen. Die dramatischen Geschehnisse der damaligen nächtlichen Stunden haben tiefe, unauslöschliche Spuren in der Stadtgeschichte von Wiener Neustadt hinterlassen.

Neugierige Bürger und Bürgerinnen vor der demolierten Synagoge, November 1938 (c) Stadtarchiv Wiener Neustadt
Neugierige Bürger und Bürgerinnen vor der demolierten Synagoge, November 1938 (c) Stadtarchiv Wiener Neustadt

Im 80-seitigen Buch „Novemberpogrom 1938. Die ‚Reichskristallnacht‘ in Wiener Neustadt und der Region. Hintergründe – Entwicklungen – Folgen“ (2013) von Werner Sulzgruber sind viele Details, mit seltenen Dokumenten und Fotomaterial, über dieses Ereignis erfasst. Hier ein Auszug:

Das Schussattentat des 17-jährigen Herschel Grynszpan am 7. November 1938 auf den deutschen Botschaftsangehörigen Ernst vom Rath wurde zum Anlass brutaler Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung im gesamten Deutschen Reich. Nach dem Tod des Botschaftssekretärs am 9. November kam es auf Veranlassung von Joseph Goebbels, dem Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, zu „Vergeltungsmaßnahmen“. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden Synagogen, jüdische Bethäuser und Kultusgebäude in Brand gesteckt und zerstört, Geschäfte und Wohnungen geplündert und beschlagnahmt sowie tausende Juden und Jüdinnen verhaftet.

Das Pogrom in Wiener Neustadt

In Wiener Neustadt besetzten Nationalsozialisten am 10. November 1938 die Liegenschaft am Baumkirchnerring 4, auf dem sich die Synagoge, das Bethaus und ein Schlacht- bzw. Schächthaus befanden und die das Zentrum des religiösen Lebens der jüdischen Einwohner gewesen war. Führend in den antijüdischen Aktionen waren dabei Mitglieder der Sturmabteilung (SA). Die Synagoge wurde beschädigt, weil man das große Rundfenster (ausgeführt als Rosette mit einem Davidstern) und andere Teile der Fassade herausschlug. Die Innenräume wurden geleert, indem man Einrichtungsgegenstände abtransportierte und wertvolle Utensilien beschlagnahmte. Die NSDAP-Kreisleitung nahm relevante Dokumente (wie zum Beispiel die interessanten Matriken) an sich. Als weniger wertvoll erachtetes und als unbrauchbar eingestuftes Gut zerstörte man an Ort und Stelle. Darunter waren zum Beispiel alle hölzernen Sitzbankreihen der Synagoge. Schutt und zertrümmerte Objekte wurden vor dem Gebäude aufgehäuft.

Am selben Tag, dem 10. November 1938, trieben Nationalsozialisten jüdische Familien aus ihren Häusern und Wohnungen. Es wurde ihnen untersagt, etwas mitzunehmen, und so befahl man sie mit dem, was sie am Leibe trugen, auf die Straße. In kleinen Gruppen brachte man sie zu Fuß oder mit Fahrzeugen zur Synagoge am Baumkirchnerring, wo sie eingesperrt wurden. Das Bethaus am Baumkirchnerring und das städtische Gefängnis, aber auch andere Gebäude, wurden jeweils zentrale Sammellager für die noch in der Stadt verbliebenen Juden und Jüdinnen. Obwohl in anderen Städten die Synagogen zerstört wurden, ging der „Tempel“ hier nicht in Flammen auf, weil er sich bereits im Besitz der Stadtgemeinde befand. In den insgesamt 15 Kultusgemeinden in Niederösterreich brannte – im Gegensatz zu Wien und anderen Gebieten des Deutschen Reiches – kaum eine Synagoge. Dennoch war das Gewaltpotential in Niederösterreich hoch, denn Auslagen jüdischer Geschäfte wurden zerschlagen und Betriebe geplündert (zum Beispiel in Neunkirchen, Baden, Mödling, Krems), Brände in Synagogen gelegt (zum Beispiel in Baden, Mödling) sowie jüdische Einrichtungen verwüstet (zum Beispiel in St. Pölten) und mancherorts sogar gesprengt (wie zum Beispiel die Zeremonienhalle und das rituelle Tauchbad in Baden). Man erzwang Unterschriften für „Kaufverträge“ und brachte die Inhaftierten um ihr letztes Hab und Gut. Juden und Jüdinnen wurden Leibesvisitationen unterzogen, verhört, erniedrigt und beraubt.

Vorplatz und Eingangsbereich zur Wiener Neustädter Synagoge, November 1938 (c) Stadtarchiv Wiener Neustadt
Vorplatz und Eingangsbereich zur Wiener Neustädter Synagoge, November 1938 (c) Stadtarchiv Wiener Neustadt

Abschiebung

Nach ein paar Tagen wurden fast alle Inhaftierten nach Wien abgeschoben. Kaum bekleidet, ohne Geldmittel und ver­ängstigt suchten die Vertriebenen nun Mitte November in der Großstadt Hilfe bei Verwandten, Freunden und jüdischen Organisationen. Die vertriebenen Wiener Neustädter Juden und Jüdinnen waren ab nun vollends auf Unterstützung angewiesen und konnten meist durch Spenden für eine gewisse Zeit notdürftig überleben. Mit Bittschreiben versuchten viele von der NSDAP-Kreisleitung Wiener Neustadt, zuständigen kommissarischen Verwaltern oder „Ariseuren“ Unterstützung für ihre Familie zu bekommen, um zu überleben. Ihre Ziele waren primär die Sicherheit der Kinder sowie die Flucht bzw. die Auswanderung.

In mehreren Fällen waren jüdische Familien aus Wiener Neustadt auseinandergerissen worden. Die Männer wurden inhaftiert, und die Mütter waren mit ihren Kindern auf sich allein gestellt. Die im KZ Dachau in Haft befindlichen jüdischen Männer, die man nämlich Mitte November sofort dorthin transportiert hatte, wurden erst Wochen oder gar viele Monate später entlassen.

„Kristallnacht“: Diese Bezeichnung, wie sie sich in der nationalsozialistischen Presse von damals fand, leitete man von den mit Scherben übersäten Straßen ab. Für jüdische Zeitzeugen und Zeitzeuginnen bildete das Novemberpogrom – also die „Reichskristallnacht“, in der die gewaltsamen Ausschreitungen gegen die jüdische Minderheit eigentlich mehr als nur eine Nacht, sondern mehrere Tage andauerte – die letzte Erinnerung an Wiener Neustadt.

Alice Lemberger (geboren am 12. Mai 1925 in Wiener Neustadt), die Tochter des jüdischen Kaufmannes Arnold Lemberger, erinnerte sich: „Dieser schicksalshafte Tag war […] die ‚Kristallnacht‘. Mein Bruder und meine Mutter und all die anderen Juden wurden durch die Straßen zum Tempel getrieben – mit nichts anderem als dem, was wir am Leibe trugen. […] Wir schliefen auf dem Boden im Versammlungssaal neben dem Tempel, völlig verängstigt, was die Nationalsozialisten als Nächstes tun würden. Letztendlich – es waren nur Frauen und Kinder dort – wurden wir in das Frauengefängnis gebracht […] und in einer Zelle eingesperrt. Meine Mutter weinte so viel! Die Männer waren bereits zu irgendeinem anderen Gefängnis weggebracht worden – wir wussten nicht wohin. [...] Irgendwann wurden wir in der Nacht nach Wien gebracht und entlassen! Nie, nie wieder sahen wir unser Zuhause.“

Alice Lemberger, 1937 (c) Nachlass Walter Lee
Alice Lemberger, 1937 (c) Nachlass Walter Lee

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